9.º Encuentro hispano-alemán de cultura 9. Deutsch-Spanische Kulturbegegnung
In den letzten Jahren ist das Thema Erinnerungskultur zu einem umkämpften Terrain geworden. Das ist nicht überraschend, da doch die Frage wie eine Gesellschaft ihre Vergangenheit in die Gegenwart interpretiert maßgeblich Zugehörigkeiten zur Gesellschaft verhandelt und eine Basis für Visionen für die Zukunft bietet.
Spanien und Deutschland zeigen hierbei vielschichtige Ausgangssituationen: Beide Nationen haben tiefgreifende Erfahrungen mit politischen Umbrüchen und Diktaturen gemacht. Während Spanien vor allem vom Bürgerkrieg und der Franco-Diktatur geprägt ist, liegt in Deutschland ein besonderer Fokus auf der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Shoah. Darüber hinaus verbindet beide Länder eine koloniale Vergangenheit, in der sie eine entscheidende Rolle in der Ausbeutung und Unterwerfung anderer Länder spielten. Diese rassistische Wissensproduktion zieht sich bis in die Gegenwart beider Kulturen und manifestiert sich besonders in rassistischen Strukturen. Gleichzeitig prägt Migration sowie Flucht- und Kriegserfahrungen inzwischen einen beträchtlichen Anteil der europäischen Bevölkerung. Diese vielfältigen Erfahrungen gestalten die reichhaltigen Erinnerungslandschaften der europäischen Gesellschaften.
In den letzten Jahrzehnten hat die deutsche Erinnerungspolitik vor allem dazu gedient, eine eindimensionale Erzählung der Wiedergutmachung Deutschlands zu inszenieren. Der Publizist Max Czollek bezeichnet dies treffend als «Versöhnungstheater». Zahlreiche bedeutsame Geschichten bleiben dabei unerzählt, obwohl sie einen entscheidenden Einfluss auf die Gegenwart Deutschlands haben. Unterschiedlichste Migrationsbiografien, Sprachen, Kulturen, Hautfarben, Religionen, Altersgruppen, sozialen Schichten, geschlechtlichen Identitäten und Menschen mit verschiedenen körperlichen Einschränkungen und Fähigkeiten bringen eine vielzahlt an Perspektiven in der Gesellschaft ein, die in einer effektiven Erinnerungskultur anerkannt, sichtbar gemacht und gestärkt werden müssen. Die gegenwärtige Erinnerungskultur in Deutschland ist jedoch geprägt von Ausschlussmechanismen und hierarchischen Strukturen. Es bedarf dringend einer Veränderung, damit sie sich enger an die Realität der Gesellschaft verbindet. Die Konstruktion eines jüdisch-christlichen Abendlandes oder die Infragestellung der Erinnerung an die Shoah sind hierfür anschauliche Beispiele.
Wie kann die Dynamik und der Wandel der Gesellschaft in der Erinnerungskultur widergespiegelt werden? Wie können historische und aktuelle Verflechtungen zusammengeführt werden, wie etwa zwischen Antisemitismus und Rassismus oder zwischen der kolonialen Vergangenheit und der Gegenwart? Es ist von großer Bedeutung sicherzustellen, dass das Gedenken an den Holocaust als zentrales Verbrechen des 20. Jahrhunderts weiterhin den Mittelpunkt einer pluralen europäischen Erinnerungskultur bildet, während gleichzeitig die Erinnerungen an Flucht, Vertreibung, Gewalt, Entmündigung und den Kampf ums Überleben als wichtige Erfahrungen dieser Zeit ernst genommen werden. Diese Fragen stellen sich im Kontext einer Gegenwart, die von einer Vielzahl globaler Krisen geprägt ist und in der Demokratien einem zunehmenden Rechtsruck durch populistische Parteien gegenüberstehen.
Ein bedeutender Aspekt des deutsch-spanischen kulturellen Austauschs liegt in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Erinnerungskulturen beider Länder. Dabei geht es nicht allein um die historischen Ereignisse selbst, sondern auch um deren Verarbeitung in der Gesellschaft, Politik und Kunst. Dies ermöglicht es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen und voneinander zu lernen und um neue Impulse für die Erinnerungskultur in Spanien und Deutschland zu setzen.
Hannan Salamat, 24.04.2024
Angesichts der gegenwärtigen multiplen Krisen – Klimakrise, Wirtschaftskrise und des Vertrauensverlusts in einige Grundpfeiler der demokratischen Systeme – muss der Kulturbereich mit einer gewissen Dringlichkeit Anstrengungen unternehmen, um gemeinsam nachzudenken, zu debattieren und Entscheidungen zu treffen, damit die vor uns liegenden Herausforderungen bewältigt werden können. In diesem dringenden Szenario mag es utopisch erscheinen, die Erinnerungskultur, die sich direkt auf die Vergangenheit beruft, als einen Ort zu beanspruchen, der die Gestaltung einer gemeinsamen wünschenswerte Zukunft erlaubt.
Erinnerung bekommt als utopischer Wert, der in unsere Lebensentwürfe aufgenommen werden sollte, einen multiplen Charakter. Für eine wünschenswerte Zukunft müssen viele Erinnerungen mit unterschiedlichen Nuancen, Hautfarben und aus unterschiedlichsten Federn zum Vorschein treten. Erinnerungen verstanden als Räume, in denen historische Narrative entstehen, nähren offizielle Narrative, aber sie enthalten auch die notwendigen Ausgangspunkte für historische Lesarten, die gegen den Strich gehen. Deutschland und Spanien sind Länder mit umfassenden Erfahrungen in der Revision und Dekonstruktion von Geschichtsnarrativen, die oftmals aus Unterdrückung, Kriegen und Diktaturen im zwanzigsten Jahrhundert entstanden sind. Das Dritte Reich und der Holocaust auf der einen Seite und der Bürgerkrieg und die Franco-Diktatur auf der anderen Seite sind zweifelsohne „Höhepunkte“ in Bezug auf die Vergangenheitsbewältigung als umkämpfter Platz. Beide Länder haben auch eine jahrhundertelange Geschichte als Protagonisten der imperialen Expansion und der kolonialen Beherrschung von Völkern, Gemeinschaften und Nationen in Lateinamerika, Afrika und Asien, die nicht nur rassistische, institutionelle und alltägliche Logiken in die Gegenwart gebracht hat, sondern auch historische Ungleichgewichte als Ergebnis der Unersättlichkeit von Ressourcen, Arbeit und Rohstoffgewinnung, die in den Dienst der Entwicklung und des Fortschritts der beiden Länder gestellt wurden. Darüber hinaus lassen die unterschiedlichen Wege der Vergangenheitsbewältigung in beiden Ländern auch die Spuren einer Vergangenheit der männlichen Vorherrschaft, der patriarchalen Gesellschaftsordnung innerhalb und außerhalb des häuslichen Umfeldes und der Verfolgung und Unterdrückung geschlechtlicher und sexueller Dissidenz zum Vorschein treten, die sich unter anderem aus dem Artikel 175 des deutschen Strafgesetzbuches ableiten lässt, der zwischen 1875 und 1994 in Kraft war, oder aus dem spanischen Gesetz über die soziale Gefährdung und Rehabilitation von 1970, das erst 1995 vollständig aufgehoben wurde.
Diese Ausschreibung ist ein Aufruf an Einzelpersonen und Kollektive, die aus unterschiedlichen Disziplinen und Ausdrucksformen kommend daran arbeiten, die vielfältigen Erinnerungen, die unsere heutigen kollektiven Identitäten prägen, an die Oberfläche zu bringen, und mit den gemeinsamen Werten verbunden sind, die durch die Zeit hindurch noch heute in der deutschen und spanischen Gesellschaft pulsieren und als Inspiration für die Vorstellung einer wünschenswerten Zukunft dienen. Das Ziel dieser Ausschreibung ist es, das kulturelle und soziale Potenzial von Erinnerungen in unserer Gegenwart auf mindestens drei Ebenen zu erweitern: (1) noch mehr Stimmen Gehör zu verleihen, die sich erinnern und dazu beitragen, die Nuancen und historischen Entwicklungen im deutschen und spanischen Raum sichtbar zu machen, besonders durch unterschiedliche Merkmale von Geschlecht, Sexualität oder sozialer Klasse; (2) durch die Identifizierung neuer Methoden, die in der Lage sind, neue Erinnerungen an die Oberfläche zu bringen, die, wie Gespenster der Geschichte, lange Zeit unbemerkt geblieben sind; und schließlich (3) durch das Aufzeigen von Beispielen der Aktivierung von Erinnerungen, künstlerischen Mitteln, die in der Lage sind, die Absichten und Werte, die vergangene Erfahrungen inspiriert und gerechtfertigt haben, zu aktualisieren, zu verbinden und ihnen einen Sinn für die Gegenwart zu verleihen.
Alberto Berzosa
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